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Von den unzähligen Ruinenstätten des Irak ist vermutlich Babylon die berühmteste. Auch die Sumerer, Akkader und Assyrer sind vielen noch bekannt. Die jüngeren Abschnitte der Jahrtausende währenden Geschichte Mesopotamiens ist den Europäern durch die Bibel immer nahe gewesen und inzwischen ist sie dank des immensen Korpus an Keilschriftdokumenten des 3.-1. Jt. v. Chr. gut aufbereitet. Doch wie sehen die Wurzeln der einstigen Hochkulturen aus? Was wissen wir über die vorgeschichtlichen Epochen Mesopotamiens?
 
Vor dem Hintergrund, dass nur Teile der faszinierenden Hinterlassenschaften Mesopotamiens Berühmtheit erlangt haben, ist es für die Archäologie von heute ein Anliegen, die weniger bekannten Plätze und Ereignisse in den Vordergrund zu rücken und sie in ihrer ursprünglichen Bedeutung darzustellen. Erbil, die heutige Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistans, ist ein solcher Ort:
Ischtar, die Göttin der Liebe und des Krieges, wurde zur Zeit der Assyrer in Erbil in einem bis heute unentdeckten Tempel verehrt. Assurbanipal, einer der bedeutendsten assyrischen Herrscher pries Erbil auch als die Stadt der Freude und als „Stadt ohnegleichen“. Erbil kann zudem in die Reihe der ältesten bis heute bewohnten Orte der Welt gestellt werden. Die frühesten Besiedlungsspuren auf der beeindruckenden Zitadelle selbst beziehungsweise in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft verweisen mindestens bis in das 7. Jahrtausend vor Christus – also bis in die ausgehende Steinzeit.
 
Derzeit befasst sich nur eine Ausgrabung mit der eher unbekannten Vorgeschichte Erbils. Unter der Leitung des Athener Archäologen Dr. Konstatinos Kopanias gräbt sein Team in Zusammenarbeit mit der Antikenverwaltung der Provinz Erbil einen über 8000 Jahre alten Siedlungsplatz aus. Der etwa 1 ha große Tell Nader liegt im stetig anwachsenden Neubaugürtel der Stadt. Er war 2010 bereits durch Bauarbeiten bedroht und wurde dank der Umsicht von Herrn Mohammad Babakr Nader (General Directorate of Antiquities of Kurdistan) vor weiterer Zerstörung bewahrt. Der Universität Halle-Wittenberg ist in dieser Kooperation eine der wichtigsten Fundgattungen anvertraut worden: die Gefäßkeramik. Die im Vorderen Orient in der Regel zu tausenden anfallenden Scherben sind bis heute ein unersetzliches Datierungsmittel in der Archäologie. Mit ihrer Hilfe gelingt es uns bereits vor dem ersten Spatenstich eine grobe zeitliche Einordnung des gesamten Fundplatzes vorzunehmen. Schon Herr Nader hatte anhand der Oberflächenfunde die Hauptbesiedlungsphase um 5000 v. Chr. angesetzt – einem Zeitraum, in dem wir unter anderem die Herausbildung der ersten gesellschaftlichen Hierarchien beobachten können. In der ersten Kampagne im April 2011 erlebten wir dann eine kleine Überraschung: Das ergrabene Material zeigte die in typischer Weise dekorierten Scherben der so genannten Hassuna-Zeit. In dieser spätneolithischen Epoche begegnen wir einer Töpferei in Mesopotamien, die technologisch zwar schon auf hohem Niveau arbeitet, kulturgeschichtlich gesehen aber gerade noch in den Kinderschuhen steckt.
Hiermit kann es als gesichert gelten, dass unser kleiner Hügel lückenlos vom späten 7. Jt. bis ins frühe 4. Jt. v. Chr. besiedelt war. Für die darauf folgenden Jahrtausende bestehen noch einige Unsicherheiten, eine letzte Nutzung des Tells ist um 1000 v. Chr. anzusetzen.
 
Diese Befundlage wird uns in Zukunft in die Lage versetzten, einen wichtigen Beitrag in der archäologischen Grundlagenforschung zu leisten. Durch die politische Lage im Irak der letzten Jahrzehnte musste man sich mit zahlreichen weißen Flecken auf der archäologischen Landkarte begnügen. Dies gilt insbesondere für Nordostmesopotamien und das nordosttigridische Gebiet. Die internationale Archäologengemeinschaft intensivierte derweil die Forschungen in Syrien und Südostanatolien. So sind wir nun mit ganz neuen Forschungsansätzen konfrontiert, die dank der stabilen Lage in der kurdischen Region mit Hilfe der neuen Ausgrabungen Antworten finden sollen.
Eine der Fragen, die heute im Diskurs stehen, ist zum Beispiel die Frage nach den Austauschmechanismen und besonders den Austauschrichtungen von Kulturleistungen und Technologien: War das prähistorische Sumer der einzige Impulsgeber? Welchen Anteil an den Urbanisierungsprozessen im 5.-4. Jt. v. Chr. hatte Nordmesopotamien mit seiner Jahrtausende alten Kultur? Erbil als Mittler zwischen Süd und West wird in diesem Diskurs eine entscheidende Rolle spielen.
 
 
 
 
 
Abb. 1 Die ersten Ausgrabungen an Tell Nader fanden im April 2011 statt. Im Hintergrund ist das Neubaugebiet von Erbil zu sehen, das den flachen Hügel von allen Seiten umschließt (Foto: © K. Kopanias, Athen).
 
 
 
Abb. 2 Dicht unter der Oberfläche konnten noch die Baggerspuren ausgegraben werden, die von den illegal durchgeführten Bauarbeiten herrühren (Foto: © K. Kopanias, Athen).
 
 
 
 
Abb. 3 Ein mindestens 6000 Jahre altes Keramikgefäß in Form einer Ente wurde im September 2012 am Tell Nader ausgegraben (Foto: © R. Heitmann, Berlin).
 

Dr. Claudia Beuger

MARTIN-LUTHER-UNIVERSITÄT

HALLE-WITTENBERG

Philosophische Fakultät I

Institut für Altertumswissenschaften

Seminar für Orientalische Archäologie und Kunstgeschichte

06099 Halle (Saale)

 
   
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